"Diese Veranstaltung hat inzwischen längst einen festen Platz im gesellschaftspolitischen Jahreskalender unseres Landes. An diesem Tag wird neben den weltweiten Opfern von Flucht, Vertreibung und Deportation an die rund 14 Millionen deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen erinnert, die in der Folge des Zweiten Weltkrieges ihre angestammte Heimat verloren haben. Das ist ein beispielloser Vorgang in der deutschen Geschichte. Dies nicht zu verdrängen, zu verschweigen oder gar zu tabuisieren ist unser aller Pflicht. Und diese Erinnerung ist gerade heute, angesichts der Kriege und Krisen in vielen Teilen der Welt und vor dem Hintergrund der vielen Flüchtlinge, die vor Leid, Tod und Unterdrückung fliehen, eine Mahnung, sich gegen Unrecht zu wenden und den Verfolgten von heute zu helfen."
Diese Worte wählte Siegbert Ortmann, Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen (BdV) in Hessen, zu Beginn seiner Begrüßung. Zu dieser Gedenkfeier, die alljährlich gemeinsam von der Hessischen Landesregierung und dem BdV-Landesverband Hessen in der Rotunde des Biebricher Schlosses begangen wird, konnte der BdV-Landesvorsitzende zahlreiche Ehrengäste und Besucher aus ganz Hessen begrüßen: Norbert Kartmann, Präsident des Hessischen Landtages, Volker Bouffier, Hessischer Ministerpräsident, Stefan Grüttner, Minister für Soziales und Integration, Thorsten Schäfer-Gümbel, SPD-Fraktions- und Landesvorsitzender sowie stellvertretender Bundesvorsitzender der SPD, Hartmut Koschyk, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Abgeordnete des Hessischen Landtages, Vertreter aus hessischen Kommunen, sozialen Verbänden und Kirchen sowie Aufgabenträger aus den hessischen BdV-Kreisverbänden, landsmannschaftlichen Vereinigungen und befreundeten Nachbarverbänden.
Im Jahr des 60. Gründungsjubiläums des BdV ging Ortmann auch auf dessen Bedeutung ein: "Über sechs Jahrzehnte war sein Wirken und die Arbeit seiner Mitglieder an den Grundwerten ausgerichtet, wie sie sich aus der politischen Willensbildung der deutschen Heimatvertriebenen in der Charta von 1950 zum friedlichen Miteinander der Menschen in Deutschland und Europa ergeben. Denn dort heißt es wörtlich: „Wir verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches besonders das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas“.
Ministerpräsident Volker Bouffier lobte in seiner Ansprache den Integrationswillen der Flüchtlinge, Heimatvertriebenen und Spätaussiedler, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Folgejahren in Hessen ein Zuhause gefunden haben; das Eintreten dieser Bürger für Menschenrechte sei zeitlos. "In vielerlei Hinsicht bundesweit einmalig wird in Hessen viel dafür getan, um die Anliegen der Heimatvertriebenen und Spätaussiedler zu unterstützen und zu würdigen. Mit der eigens geschaffenen Position der Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler wurden die Angelegenheiten der Gesellschaftsgruppe zu einem wichtigen Bestandteil von Regierungspolitik gemacht. Es gilt, die Kulturarbeit nicht nur zu pflegen und zu fördern, sondern auch weiterzuentwickeln, um den wertvollen Erfahrungsschatz dieser Generation für Gegenwart und Zukunft zu erhalten.
Deshalb ist zum Beispiel seit dem aktuellen Schuljahr im Kerncurriculum für den Geschichtsunterricht der Oberstufe das Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg verbindlich festgeschrieben. Wir müssen junge Menschen einerseits für diese Geschichte interessieren, andererseits müssen wir sie begeistern für europäische Zusammenhänge, denn nur mit einem starken Europa können die Herausforderungen der Zeit gemeinsam bewältigt werden“, so Ministerpräsident Volker Bouffier. Zuvor hatte Stadtrat Markus Gaßner im Auftrag des Oberbürgermeister Sven Gerich die Grüße der Landeshauptstadt Wiesbaden überbracht.
Festredner Hartmut Koschyk ging auf das Leitwort "60 Jahre Einsatz für Menschenrechtre, Heimat und Verständigung" ein: "Im Jubiläumsjahr aus Anlass von 60 Jahren Bund der Vertriebenen begehen wir heute zum vierten Mal den Hessischen Gedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation und zugleich den „Zentralen Tag der Heimat“. Es ist in besonderer Weise auch den Vertriebenenverbänden zu verdanken, dass sich neben dem individuellen und schriftlichen Erinnern, auch ein solches gemeinsames Erinnern an die verlorene Heimat entwickelte. Der Begriff „Heimat“ wurde nicht mehr allein als eine individuelle emotionale Bindung an den persönlichen Ort des Aufwachsens und seine Kultur verstanden. Er wurde auch zu einem kollektiven Erinnerungsort. Die kollektive Erinnerung an die verlorene Heimat im Osten, an Flucht, Vertreibung und Deportation wurde für die Verfasstheit und das Selbstverständnis der jungen Bundesrepublik bestimmend - und es ist es bis zum heutigen Tag! Und so haben wir uns jahrzehntelang - zu Recht - dieser kollektiven Erinnerung vergewissert; ich bin auch davon überzeugt, dass dies einen nicht zu unterschätzenden Anteil für die politische Stabilität unseres Landes hatte und hat.
Für diejenigen unter Ihnen, die noch Zeitzeugen von Flucht und Vertreibung sind, hat der heutige Gedenktag eine ganz besondere Bedeutung. Für Sie, die wie Millionen anderer Deutscher kriegs- und kriegsfolgenbedingt aus ihren angestammten Lebensbezügen gewaltsam herausgerissen wurden, die auf ihrer Flucht und Vertreibung unsagbares und unvorstellbares Leid erfahren haben, die gehungert haben, die Tote wie weggeworfen gesehen haben und liebste Menschen haben sterben und verzweifeln sehen müssen: für Sie bedeutet der heutige Tag in erster Linie eine ganz persönliche Erinnerung. Mit dieser Erinnerung vergegenwärtigen Sie das Verlorene und halten es gleichsam in Ihrer Erinnerung wach und lebendig."
Dabei verwies Koschyk auch auf Edith Kiesewetter-Giese, einer 1935 geborenen Zeitzeugin aus Mähren, die nach unbeschwerter Kindheit im Zuge der wilden Vertreibung 1945 ihre Heimat verlor. "Was in Erinnerung bleibt, stirbt nicht!“, mit diesem Titel eines Sammelbandes hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, durch Bücher, aber vor allem durch den Dialog zwischen den Generationen, wach zu halten, was nicht vergessen werden darf. Koschyk lobte in seiner Gedenkrede auch die beispielhafte Unterstützung durch das Land Hessen: "Das Land Hessen gehört zu den Bundesländern, die sich für die deutschen Flüchtlinge, Heimatvertriebenen und Aussiedler besonders stark engagieren. Dafür möchte ich mich bei Ihnen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident Volker Bouffier, sehr herzlich bedanken! In Anerkennung Ihrer großartigen Leistungen haben Sie im Juni auch die hohe Auszeichnung des Europäischen Karlspreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft erhalten."
Die Veranstaltung wurde von der Blaskapelle Weindorf Johannisberg, dem Chor ChorART Rheingau sowie dem Dialog Quartett mitgestaltet.