„WER DIE GESCHICHTE NICHT KENNT, KANN DIE ZUKUNFT NICHT GESTALTEN.“

„Tag der Heimat“ in Wetzlar erinnert an die Leistung der Vertriebenen in Hessen

Gleich drei Gedenktage wurden beim „Tag der Heimat“ in der Wetzlarer Stadthalle begangen: 80 Jahre Kriegsende, 75 Jahre Charta der Heimatvertriebenen und 35 Jahre deutsche Wiedervereinigung. Etwa 220 Besucher waren der Einladung des Bundes der Vertriebenen (BdV) gefolgt, dessen Kreisverband und Ortsverband Wetzlar Ausrichter waren. „80 Jahre: Erinnern – Bewahren – Gestalten“ war denn auch das mehr als dreistündige Programm überschrieben. Der Moderator Michael Hundertmark, Stellvertretender BdV-Kreisverbandsvorsitzender, sagte zu den Gästen: „Viele von Ihnen gehören der Erlebnisgeneration an, sind Zeitzeugen, die ein Erinnern erst möglich machen. Durch Ihre eigenen Biografien und Lebensgeschichten wird ein Bewahren dieser Episode unserer Geschichte erst möglich. Und wer die Geschichte nicht kennt, kann die Zukunft nicht gestalten“.

Der Festredner, der BdV-Landesvorsitzende Siegbert Ortmann (Lauterbach), sagte, mehr denn je seien die Fragen von Heimat, Erinnerung und Verantwortung aktuell. „Flucht und Vertreibung sind kein abgeschlossenes Kapitel. In der Ukraine mussten Millionen Menschen ihre Heimat verlassen. Und auch im Nahen Osten, in Afrika oder Asien erleben Menschen Gewalt, Zerstörung und Entwurzelung“. Dabei würden sich die Mechanismen augenscheinlich ähneln: Gewalt, Entrechtung und Zerstörung von Heimat.

Deshalb sei die vor 75 Jahren in Stuttgart verkündete „Charta der Heimatvertriebenen“ ein einzigartiges Dokument der Zeitgeschichte. „Sie war ein mutiger und moralisch wegweisender Schritt. In ihr bekannten sich die Heimatvertriebenen zum Verzicht auf Rache und Vergeltung“, fasste Ortmann zusammen, der 1940 in Wiesengrund im Sudetenland geboren wurde und seine eigene Vertreibungserfahrung mitbringt. Er erinnerte an die Bereitschaft der Menschen aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten zum Wiederaufbau in der neuen Heimat und zur europäischen Verständigung. Der Bund der Vertriebenen verstehe sich heute als Sachwalter der Vertriebenen, Aussiedler und Spätaussiedler. Er bewahre die Kultur und sorge dafür, dass die Geschichte von Flucht und Vertreibung nicht vergessen werde. Der Referent, der auch Vorsitzender des Landesbeirats für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen in Hessen ist, benannte die Fluchtursachen: „Für mich steht fest, dass einzig und allein Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus die eigentliche Ursache unserer Vertreibung waren“. An dieser Stelle erhielt Ortmann besonderen Applaus. Das Motto des Tages der Heimat, „Erinnern – Bewahren – Gestalten“, fasse die heutige Aufgabe zusammen. Erinnerung dürfe nicht rückwärtsgewandt sein. Sie sei vielmehr der Auftrag, die Zukunft friedlich, gerecht und menschlich zu gestalten. „Erinnern – das bedeutet, nicht zu vergessen, was vor 80 Jahren geschah“, und dabei das unermessliche Leid ins Bewusstsein zu rufen, das Millionen Menschen durch Krieg, Flucht, Vertreibung und Deportation erlitten. „Ganze Familien wurden auseinandergerissen, Dörfer und Städte entvölkert, Jahrhunderte alte Kulturlandschaften zerstört. Für viele begann eine Odyssee, die nicht selten auch im Tod endete“. Bewahren heiße, die Zeugnisse der Schicksale nicht der Vergessenheit preiszugeben. Die Stimmen der Zeitzeugen seien ein unschätzbares Erbe. „Sie mahnen uns, wie zerbrechlich Frieden und Menschenwürde sind und wie schnell sie zerstört werden können“. In Hessen hätten nach 1945 Hunderttausende Vertriebene und Flüchtlinge eine neue Heimat gefunden und das Land mit ihrer Tradition, Kultur, ihrer Sprache und ihren Liedern bereichert. „Die Integration war nicht immer leicht. Aber sie gelang, weil die Vertriebenen selbst Mut und Tatkraft bewiesen, und weil die Aufnahmegesellschaft sich im Großen und Ganzen ihrer Verantwortung stellte“, sagte Ortmann. Seine Rede schloss mit dem Appell: „Heimat ist eine Aufgabe für uns alle. Bewahren wir sie für uns, für kommende Generationen und für ein friedliches Europa“. Der Vorsitzende des BdV-Kreisverbandes, der 87-jährige Manfred Hübner, bedankte sich bei Ortmann für den Vortrag und überreichte ihm ein Buchgeschenk.

Unter den Besuchern konnte Michael Hundertmark zahlreiche Ehrengäste begrüßen, die teilweise mit einem Grußwort die die Bedeutung des Tages hervorhoben. Der Wetzlarer Stadtrat Jörg Kratkey (SPD) erinnerte daran, dass nicht nur an 80 Jahre Kriegsende gedacht werde, sondern auch an 35 Jahre deutsche Einheit. Sein Vater sei auch einst aus dem Sudetenland vertrieben worden. Kratkey mahnte: „Man muss die Geschichte kennen, um die Zukunft gestalten zu können“. Der CDU-Landtagsabgeordnete Frank Steinraths erinnerte daran, dass das Land Hessen den ersten Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler installiert hat. Es sei wichtig, dass das Erlebte in Erinnerung bleibe und die Jugend für dieses Thema begeistert werde. Sein Kollege von der FDP, Matthias Büger, sagte, Gestalten schließe auch die Zukunft ein. Leider sei die Welt nicht friedlicher geworden. „Wir wollen in Frieden leben und müssen klar machen, dass Krieg kein Mittel der Politik ist“.

Für den BdV-Landesverband sprach die stellvertretende Vorsitzende Dr. Olga Martens, lobte, dass die Vertriebenen aus ihrem Leid etwas Schönes auf die Beine gestellt hätten. Die Spätaussiedlerin aus Russland wies darauf hin, dass es viel Positives gebe, wie die Sprache, die Musik, die Vereine und die Landsmannschaften. Der Vorsitzende des Ortsverbandes, Kuno Kutz, gedachte der Toten von Flucht und Vertreibung. „Wir, die wir Krieg und Vertreibung hautnah miterleben mussten, stehen fassungslos vor der Tatsache, dass heute immer noch in vielen Ländern der Welt wie der Ukraine und im Gaza-Streifen Krieg herrscht, dass auch heute noch täglich Menschen ihr Heim, ihre Heimat, Freunde und Verwandte hinter sich lassen müssen, nur um ihr blankes Leben zu retten. Dabei erinnerte er auch an die jüngst verstorbenen Mitglieder des BdV und der Landsmannschaften: Dr. Christean Wagner, den Vorsitzenden der Stiftung Zentrum gegen Vertreibung, an Klaus Plasczek, Vorsitzender der Landsmannschaft der Oberschlesier, an Josef Plahl, Mitglied im BdV-Landesvorstand, an Anneliese Ludwig, die Landesfrauenreferentin der hessischen Landesgruppe der Sudetendeutschen Landsmannschaft (SL), und an Norbert Quaiser, einst Öffentlichkeitsreferent des Landesverbandes.

Der Tag der Heimat wurde von zahlreichen Gruppen mitgestaltet. Dazu zählten die „Egerländer Maderln und Freunde“, die mit ihrer Blasmusik vor allem an den Musiker Ernst Mosch erinnerten, der vor 100 Jahren geboren wurde. Auch der Egerländer Volkstanzkreis, der sich aus Mitgliedern von den Egerländer Gmois aus Braunfels, Dillenburg und Herborn zusammensetzt, gehörte zu den Programmgestaltern. Sie traten in traditionellen Trachten auf und führten Tänze der alten Heimat auf.

Zudem sang die Gruppe „Stimme der Hoffnung“ unter Leitung von Lili Morland Lieder aus Russland und der Gesangverein Harmonie Dutenhofen (Leitung: Jörg R. Becker) trug zum Programm bei.

Roland Jankofsky, Stellvertretender Vorsitzender des BdV-Kreisverbandes, sagte zum Abschluss: „Der Tag der Heimat war Erinnerung und Mahnung“. Der Erlebnisgeneration sei es bis heute schwer, mit dem Verlust der Heimat zu leben. Der heutigen Bekenntnisgeneration falle es leichter. Er nehme Zeichen der Versöhnung durch junge Menschen in Tschechien wahr.

 

(Lothar Rühl)

Referenten und Ehrengäste aus Politik und BdV beim Tag der Heimat in Wetzlar.Foto: Lothar Rühl
Tänze aus der alten Heimat führt der Egerländer Volkstanzkreis Mittelhessen beim Tag der Heimat in der Stadthalle Wetzlar auf.(Foto: Lothar Rühl)
Der Landesvorsitzende des Bundes der Vertrieben ruft dazu auf, die Zukunft in einem friedlichen Europa mitzugestalten.(Foto: Lothar Rühl)