Von Heimat(en) und Identität(en)

Geschichte, Kultur und Identitätsbeschreibungen von (Spät-)Aussiedlern standen im Mittelpunkt der Kulturtagung des hessischen Bundes der Vertriebenen (BdV)

Die diesjährige Kulturtagung des BdV-Landesverbandes Hessen, die am 29. und 30. Juni in Wiesbaden stattfand, widmete sich der Geschichte, den Kulturen und den Identitätsbeschreibungen der (Spät-)Aussiedler aus den postsowjetischen Staaten, aus Polen und aus Rumänien. Die Tagung, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Lebenserfahrungen von (Spät)Aussiedlern aus den unterschiedlichen Regionen im östlichen Europa im Rahmen von Vorträgen und Workshops beleuchtete, wurde vom Hessischen Ministerium des Innern, für Sicherheit und Heimatschutz gefördert und fand in Kooperation mit dem Oberschlesischen Landesmuseum (OSLM) und der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland in Hessen (IDRH) statt. Beim kulturellen Highlight der Tagung am Samstagabend begaben sich die drei Kulturschaffenden Helena Goldt, Matthias Nawrat und Thomas Perle im Theater im Pariser Hof auf eine literarische und musikalische Spurensuche über Heimat(en) und Identität(en).

Kulturelles Erbe pflegen und bewahren
Zur Eröffnung der Kulturtagung konnte die BdV-Landeskulturbeauftragte Rose-Lore Scholz neben den zahlreichen Tagungsteilnehmenden sowie den Referentinnen und Referenten den Landesbeauftragten für Heimatvertriebene und Spätaussiedler Andreas Hofmeister MdL sowie die Geschäftsführerin der IDRH Albina Nazarenus-Vetter herzlich willkommen heißen. In seinem Grußwort überbrachte der Landesbeauftragte die Grüße der Hessischen Landesregierung und dankte dem BdV für seine jahrzehntelange Kulturarbeit zur Pflege und Bewahrung des kulturellen Erbes der Deutschen aus dem östlichen Europa.

Albina Nazarenus-Vetter, Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland in Hessen, dankte dem BdV herzlich für die Möglichkeit der Zusammenarbeit und für die gute Kooperation bei der Vorbereitung der Kulturtagung. In ihrem Grußwort informierte sie kurz über die Aufgaben und Ziele der IDRH, einem Zusammenschluss der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Hessen und der Deutschen Jugend aus Russland.

„Meine Herkunft bestimmt mein Berufsleben“
Im Hauptvortrag der Tagung „Angekommen? Russlanddeutsche im Spiegel der Zeit und heutiger Debatten“ ging Ira Peter, freie Journalistin mit russlanddeutschen Wurzeln, auf die geschichtlichen und kulturellen Besonderheiten der heterogenen Gruppe der Russlanddeutschen ein sowie auf aktuelle Debatten und Studien zur Integration und dem Wahlverhalten dieser Menschen. Als Deutsche aus Kasachstan setzt sie sich seit 2017 öffentlich wie im Aussiedler-Podcast „Steppenkinder“ mit russlanddeutschen Themen auseinander. Ira Peter wurde mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet, unter anderem 2022 mit dem „Goldenen Blogger Award“ für ihren Blog, den sie als Stadtschreiberin von Odessa 2021 führte. Sie selbst sagt über ihre Arbeit: „Meine Herkunft bestimmt mein Berufsleben.“ In ihrem Vortrag wies sie darauf hin, dass vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges von Russlanddeutschen in besonderer Weise ein Bekenntnis gegen den russischen Angriffskrieg erwartet werde. Man habe in Deutschland immer noch nicht verstanden, dass die Russlanddeutschen Deutsche aus Russland seien und nicht Russen, die in Deutschland leben. So seien etwa Darstellungen in den Medien über Russlanddeutsche häufig verzerrt, klischeehaft und voller Stereotype. Die oftmals in den Medien verbreitete „Mär der bösen Russlanddeutschen“ unterstelle den Deutschen aus Russland pauschal eine Nähe zu Putin und zu rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien. In ihren Ausführungen konnte Ira Peter diese undifferenzierten und verallgemeinernden Klischees und Vorurteile entkräften. Studien belegten, so Peter, dass die Integration der Russlanddeutschen insgesamt gelungen sei, wie etwa die hohe Beschäftigungsquote dieses Personenkreises zeige.

Theorie und Praxis in den Workshops
In ihren jeweiligen Einführungsvorträgen gaben die beiden Workshopleiter Dr. David Skrabania, Direktor des Oberschlesischen Landesmuseums in Ratingen (OSLM), und die in Kasachstan geborene diplomierte klassische Sängerin mit russlanddeutschem Hintergrund Helena Goldt wichtige Impulse für die praktische Arbeit in den Workshops am Samstagnachmittag und Sonntagvormittag.

Im Workshop „Die Flüsterer – Oberschlesische Aussiedler zwischen Integration, Identitätskrise und neuem Selbstbewusstsein" unter Leitung von Dr. David Skrabania befassten sich die Teilnehmenden mit Fragen der beruflichen, gesellschaftlichen und persönlichen Integration von (Spät-)Aussiedlern aus Oberschlesien in die bundesdeutsche Gesellschaft. Als Ergebnis konnte festgehalten werden, dass die Integration der rund eine Million oberschlesischen Aussiedler, die vor allem in den 1970er- und 1980er-Jahren nach Deutschland kamen, auf struktureller Ebene – Spracherwerb, Arbeitsaufnahme, Wohnungssuche, Schule usw. – als gelungen anzusehen sei. Auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene seien jedoch zahlreiche Brüche, intergenerationale Konflikte und die Ausbildung verschiedenartiger Identitätsmuster bei dieser großen Zuwanderergruppe festzustellen.

Die ausgebildete Opernsängerin Helena Goldt leitete den Workshop „Heimat in Klängen – Erforschung der eigenen Klangheimat". Durch gemeinsames Singen von Liedern tauchten die Workshopteilnehmenden in das Liedgut der Deutschen des östlichen Europa ein und machten sich auf die musikalische und klangliche

Suche von „Heimat“. So konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer erfahren, dass gemeinsam gesungene Lieder die Menschen mit ihrer kulturellen Herkunft verbinden, identitätsstiftend sein können und in besonders bewegten Lebensabschnitten Halt und Kraft geben.

Über Heimat(en) und Identität(en) - Literarische und musikalische Spurensuche
Das kulturelle Highlight der Tagung bildete die Veranstaltung am Samstagabend im Theater im Pariser Hof. Im Rahmen der Kulturtagung begaben sich die drei Kulturschaffenden Helena Goldt, Matthias Nawrat und Thomas Perle am Kulturabend auf eine literarische und musikalische Spurensuche über Heimat(en) und Identität(en).

Unter dem Titel „Heimatklänge aus der Ferne“ präsentierte Helena Goldt unter anderem Lieder der Deutschen aus Russland. Mit Musikstücken wie „O Susanna, wunderschöne Anna“, einem deutschen Volkslied, das ursprünglich im 18. Jahrhundert von deutschen Siedlern nach Russland mitgenommen wurde, wusste sie das Publikum zu begeistern, das ihren Auftritt mit begeisterndem Applaus und Zugabe-Rufen honorierte.

Matthias Nawrat, Autor mit oberschlesischen Wurzeln, nahm das Publikum mit auf eine Reise zwischen dem polnischen Opole und Berlin und in eine globalisierte Gegenwart. Wer sind die Vergessenen der Geschichte, wer sind die Vergessenen von heute? Seine Lesung „Über allem ein weiter Himmel“ war gleichsam eine literarische Spurensuche zwischen geografischen und kulturellen Räumen, eine Kompilation aus Gedicht, Tagebucheintrag und Essay. Der Schriftsteller lebt und arbeitet in Berlin. Im Jahr 2023 wurde er für seinen Gedichtband „Gebete für meine Vorfahren“ mit dem Fontane-Literaturpreis der Fontanestadt Neuruppin und des Landes Brandenburg ausgezeichnet.

Der Autor und Dramatiker mit rumäniendeutschem Hintergrund Thomas Perle war bereits zum wiederholten Male Gast einer BdV-Kulturtagung. In seiner Lesung „wollen helfen bei den blühenden landschaften, herr kohl“ thematisierte er in seinem eigens für diesen Abend geschriebenen Beitrag das Ankommen seiner Familie aus Rumänien in der Bundesrepublik im Jahr 1991. Als 4-Jähriger siedelte er mit seinen Eltern aus Rumänien aus und verbrachte die ersten Jahre im neuen Zuhause in Nürnberg. In seinem literarischen Vortrag schilderte er die Erinnerungen an seine Kindheit in den 1990er-Jahren. Der Schriftsteller und Dramatiker lebt heute in Wien und war 2023 Stadtschreiber der Europäischen Kulturhauptstadt 2023 Temeswar/Timișoara.

Moderiert wurde der Kulturabend von der BdV-Landeskulturbeauftragten Rose-Lore Scholz, die den drei Kulturschaffenden und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der BdV-Landesgeschäftsstelle für die Organisation der Kulturtagung herzlich dankte.

Das sagen die Teilnehmenden

Daniel Frass, Russlanddeutscher aus Friedrichshafen, fasst seine Eindrücke wie folgt zusammen: „Ich habe viele spannende und inspirierende Impulse von einigen Menschen erhalten, die nicht nur meine Herkunftsgeschichte teilen, sondern auch ähnliche Interessen wie ich haben. Das hat mich sehr gefreut! Insbesondere die Vielseitigkeit des Inputs, der durch das Event angeboten wurde, hat mich beeindruckt: Politische und gesellschaftliche Diskussionen (Impulsvortrag von Ira Peter), literarisch-lyrische Eindrücke durch Matthias Nawrat und Thomas Perle am Abend sowie einen sehr lebhaften, musikalischen Austausch im Rahmen des Workshops mit Helena Goldt. Das alles kompakt in knapp zwei Tagen. Chapeau für diese bunte Programmmischung!“

Auch Jana Oborovski aus Berlin lobte die diesjährige Kulturtagung und dankte dem BdV: „Vielen Dank für das hervorragende Programm und die tollen Austauschmöglichkeiten während der Tagung. Meine Erwartungen wurden übertroffen.“

Teilnehmerinnen und Teilnehmer der BdV-Kulturtagung 2024 (Fotos: BdV-Hessen)
Kulturtagung: (v.l.) Direktor des Oberschlesischen Landesmuseums Dr. David Skrabania, Sängerin Helena Goldt, Geschäftsführerin der Interessengemeinschaft der Deutschen aus Russland Albina Nazarenus-Vetter, Landesbeauftragter für Heimatvertriebene und Spätaussiedler Andreas Hofmeister MdL, BdV-Kulturbeauftragte Rose-Lore Scholz, Journalistin Ira Peter
Kulturabend: (v.l.) Thomas Perle, BdV-Kulturbeauftragte Rose-Lore Scholz, Helena Goldt und Matthias Nawrat