In einem Zusammenspiel aus Impulsvorträgen, Workshops und einer abendlichen Autorenlesung näherten sich die Teilnehmenden wissenschaftlich, praktisch und kreativ den Themen Oral History und Storytelling an. Wie modernes, multimediales Erzählen aus Erinnerungen kollektive Geschichte(n) entstehen lässt, wurde an drei Tagen aktiv erarbeitet. Dabei stand die Geschichte der Deutschen aus dem östlichen Europa und den damaligen Sowjetstaaten im Vordergrund. Dies stieß auf breites Interesse bei den Teilnehmenden, deren Kreis von der Zeitzeugengeneration selbst bis hin zu Nachfahren von Vertriebenen, Studierenden und jungen Erwachsenen reichte.
Zur Tagungseröffnung am Freitagnachmittag unterstrich Dr. Stefan Heck, Staatssekretär im Hessischen Ministerium des Innern und für Sport,in seinen persönlichen Grußworten, dass Gedenk- und Kulturarbeit für die hessische Landesregierung auch 76 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein zentrales Anliegen sei. „Der Bund der Vertriebenen in Hessen leistet unter anderem mit Tagungen wie diesen hierfür einen herausragenden Beitrag“, betonte Heck.
Wilhelm Beer, stellvertretender Vorsitzender des BdV Landesverbandes Hessen e.V.,knüpfte an diese Bedeutung der Verbandsarbeit an und begrüßte die Gäste dankend im Namen des Landesverbandes.
Agnes Maria Brügging-Lazar vom Kulturreferat des BdV Hessenführtein einer audiovisuellen Präsentation durch die aktuelle und künftige Veranstaltungsvielfalt des Kulturreferats. Diese bedient sich bereits zahlreicher Formen multi- und crossmedialen Storytellings, so beispielsweise mit digitalen Ausstellungsformaten und dem Podcast-Projekt CULTURE TO GO.
Der weitere Nachmittag legte in Vorträgen Impulse für die Workshoparbeit am darauffolgenden Samstag: So gewährte die freie Journalistin, Autorin und Kulturschaffende Katharina Martin-Virolainen Einblicke in interkulturelle und crossmediale Projekte und erschloss in Vertretung für die Autorin, Heimerzieherin und „Terre des Femmes“-Jugendbotschafterin Julia Kling das Thema transgenerationale Traumaweitergabe. Dr. Sarah Scholl-Schneider, Kulturwissenschaftlerin und stellv. Direktorin der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz, legte Chancen, Herausforderungen und Perspektiven von Oral History beim Thema Vertreibung dar.
Den Abend beschloss nach persönlichen Worten des Vorsitzenden des Landesverbandes Hessen e.V., Siegbert Ortmann, eine künstlerische Darbietung: Der in Wien ansässige Autor und Dramatiker Thomas Perle las aus seinem 2018 erschienenen Prosaband „wir gingen weil alle gingen“ und bot einen Vorgeschmack auf sein Stück „karpatenflecken“, das im Dezember 2021 im Deutschen Theater Berlin uraufgeführt und zu seinen weiteren Stationen das Burgtheater Wien sowie das Staatstheater Nürnberg zählen wird.
„Zwischen DNA und Digitalisierung“ bewegte sich der Vortrag des Geschichtsstudenten der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Peter Aifeld am Samstagmorgen. Selbst digital zugeschaltet, führte er die Teilnehmenden in die Möglichkeiten privater Ahnenforschung im digitalen Zeitalter heran.
Im Anschluss konnten die Teilnehmenden die Vortragsimpulse vom Vortag in praktischer Workshoparbeit umsetzen. Die Vortragsrednerinnen standen nun als Workshopleitende zu drei Themen bereit. Am Sonntagvormittag teilten die Gruppen ihre Workshopergebnisse mit dem großen Plenum. Workshopteilnehmende berichten im Folgenden selbst über ihre Erfahrungen:
Saskia Groh sagt über den Workshop „Storytelling“ mit Katharina Martin-Virolainen:
„Vormittags tauchten wir zunächst in die Theorie des Storytellings ein. Welche Kommunikationskanäle eignen sich, um eine Geschichte online zu erzählen (Blogs, Soziale Medien, Podcast…) und vor allem: Wie muss ich meine Geschichte aufbereiten, um mein Publikum emotional zu erreichen? Am Nachmittag folgte dann der praktische Teil des Workshops: Wir teilten uns in Kleingruppen auf und führten ein kleines Storytellingprojekt von der Planung über den Dreh bis hin zum Schnitt komplett um. Obwohl es nicht einfach war, in so kurzer Zeit so viel Material zu sammeln, hatten wir großen Spaß und dank der engagierten Unterstützung durch die anderen Teilnehmer am Ende des Tages eine Instagram Story, die einen guten Überblick über die Tagung und die Bandbreite ihrer teilweise sehr emotionalen Inhalte gab.
Auch wenn es ein intensives Wochenende war, war es vor allem bereichernd und hat mich mit vielen tollen und inspirierenden Menschen zusammengebracht, die ich sonst vielleicht nie kennengelernt hätte. Ich würde mich freuen und wäre gerne wieder dabei, wenn es in naher Zukunft nochmals eine ähnliche Veranstaltung gäbe.“
Julia Kling musste quarantänebedingt ihren Workshop „Diese Geschichte gehört mir! – Die Bedeutung von Transgenerationalem Trauma für die Entwicklung der eigenen Identität“ kurzfristig in einer Videokonferenz durchführen. Marta Mainka berichtet zu den Inhalten:
„Die Referentin Julia Kling führte die Teilnehmenden mit einem Vortrag ein, der einen großen und vielfältigen Einblick verschafft hat. Traumata prägen den Menschen. Das Sprechen über Verdrängtes und Unausgesprochenes ist der erste Schritt zur Aufarbeitung. Im nächsten Teil hatten die Teilnehmenden den Auftrag, sich zu überlegen, wie sie ein solches erstes Gespräch mit einer betroffenen Person führen würden und was sie beachten würden. Der letzte Teil war ein kreativer und sehr persönlicher. Die Teilnehmenden erstellten einen Lebensweg mit wichtigen Stationen, die für jede:n prägend waren. Anschließend sollte anhand des Weges eine eigene Geschichte/ ein eigener Text geschrieben werden. Dabei entstanden sehr unterschiedliche, aber persönliche Texte.
Es war ein gelungener Workshop mit einer sehr kompetenten und empathischen Referentin, die es trotz VK geschafft hat, eine sehr angenehme und persönliche/vertraute Atmosphäre zu erzeugen. Eine ausgewogene Mischung aus Wissen und Persönlichem, die für alle Teilnehmenden einen Zugewinn war.“
Dr. Sarah Scholl-Schneider leitete den Workshop „Geschichte(n) erzählen – Zeitzeugeninterviews professionell führen“ gemeinsam mit der Kulturwissenschaftlerin Maria Adam, M.A. Patrick Polling fasst die Workshoparbeit zusammen:
„Nach kurzer gemeinsamer Absprache starteten die zwei Leiterinnen den Workshop, wie geplant, interaktiv. Von der Planung über die Durchführung und Aufbereitung bis hin zur Analyse wurde ein gesamter Interviewzyklus mit Hilfe multimedialen Materials, in Form kurzer Erklärvideos, vorgestellt und gemeinsam mit den Mitwirkenden erarbeitet.
Um das neu erworbene Wissen auch in die Praxis umzusetzen, stand den Anwesenden ein sudetendeutscher Zeitzeuge zu Verfügung, mit dem ein Interview vorbereitet und durchgeführt werden sollte. Eine der Teilnehmerinnen meldete sich freiwillig, das Interview mit Herrn Siegbert Ortmann, ehemaliger Abgeordneten des hessischen Landtages und aktueller Vorsitzender des BdV Hessen, durchzuführen. Etwas über eine Stunde berichtete Herr Ortmann aus seinem Leben, von Kindheit über Vertreibung bis zu seinem Wirken in Deutschland. Im Nachgang wurde das Interview, welches von den anderen Mitwirkenden nur beobachtet wurde, analysiert und aufgearbeitet. Ein informativer und gut organisierter Workshop entlässt die Teilnehmer am Ende des Tages, sodass nun viele „professionelle“ Interviews mit Zeitzeugen geführt werden können.“
Die Tagung war ein voller Erfolg: Generationenübergreifend, interaktiv und teils kreativ, teils wissenschaftlich bildete sie den Auftakt für innovative Tagungsformate und –themen in der Zukunft. Wir freuen uns darauf!