Bei der diesjährigen Kulturtagung des BdV-Landesverbandes Hessen am 1. und 2. Juli in Wiesbaden begaben sich die Teilnehmenden auf eine familienbiografische Spurensuche und gingen der Frage nach, wie der Generationenwechsel in den Vertriebenen- und Spätaussiedlerorganisationen erfolgreich gelingen kann. Erstmals fand die Kulturtagung in Kooperation mit dem BürgerKolleg der Wiesbaden-Stiftung und dem Verband der Siebenbürger Sachsen in Deutschland e.V. statt.
Familienforschung ist gemeinsame Spurensuche, bei der sich Familienmitglieder mit ihrer Identität und mit ihren Erlebnissen auseinandersetzen. Dabei kann die eigenen Familiengeschichte ein Schlüssel zu einem besseren Umgang zwischen den Generationen sein. Was haben meine Vorfahren erlebt und wie gehen sie damit um? Doch warum erscheint die Kommunikation zwischen den Generationen manchmal schwierig und welche Bedeutung hat die eigene soziokulturelle Prägung durch den Zeitgeist einer Generation? Diese Leitfragen standen im Mittelpunkt der zweitägigen Veranstaltung mit Workshops. Die Tagungsgäste wurden zunächst in Impulsvorträgen in die Themen der angebotenen Workshops eingeführt, in denen sich die Teilnehmer aller Altersklassen generationenübergreifend mit Fragen der Familienforschung und der intergenerationellen Zusammenarbeit auseinandersetzen konnten. Das kulturelle Highlight der Tagung bildete die Lesung „Temeswarer Tage“ und das Gespräch mit Thomas Perle, Autor und Dramatiker mit rumäniendeutschen Wurzeln und jüngst auserkorener Stadtschreiber der Europäischen Kulturhauptstadt 2023 Temeswar/Timișoara im Theater im Pariser Hof in Wiesbaden.
„Zukunft geht uns alle an“ – Die BdV-Kulturtagung
Nach der Eröffnung und Begrüßung der Teilnehmenden und Gäste - darunter der hessische BdV-Landesvorsitzende Siegbert Ortmann und die Leiterin des BürgerKollegs der Wiesbaden Stiftung Victoria Müller-Lipovsky -, durch die BdV-Landeskulturbeauftrage Rose-Lore Scholz, sprach der Landtagsabgeordnete und Vorsitzende des Unterausschusses im Hessischen Landtag für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung (UHW), Andreas Hofmeister, ein Grußwort, in dem er die Bedeutung der Kulturarbeit des BdV für die Bewahrung der Vielfalt kultureller Traditionen und des Kulturgutes der Deutschen aus dem östlichen Europa hervorhob. „Der BdV in Hessen leistet hierfür gerade mit seinen jährlichen Kulturtagen einen wichtigen Beitrag“, so Hofmeister.
Katharina Martin-Virolainen, hessische BdV-Jugendreferentin, Autorin und Kulturschaffende mit russlanddeutschen und finnischen Wurzeln, berichtete in ihrem Impulsvortrag über ihre positiven Erfahrungen mit dem von ihr gegründeten Russlanddeutschen Kinder- und Jugendtheater. Das Theaterspiel könne eine Brücke zwischen den Generationen sein. Gerade vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges sei es wichtig, den jungen Generationen auch spielerisch Wissen über die eigene Familiengeschichte und das Schicksal der Deutschen aus Russland zu vermitteln.
Die Leiterin des BürgerKollegs der Wiesbaden Stiftung, Victoria Müller-Lipovsky, dankte herzlich für die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem BdV und informierte in ihrem Kurzvortrag über die Aufgaben und Ziele des BürgerKollegs. Das BürgerKolleg sei eine Art „Management-Schule für Vereine und Engagierte“. In Zusammenarbeit mit Vereinen und Kooperationspartnern biete es Seminare, Workshops und Infoveranstaltungen zu wichtigen Schlüsselqualifikationen an, um einen Verein oder eine Initiative erfolgreich zu machen oder sich persönlich engagieren zu können. Das Angebot sei für Teilnehmende kostenfrei.
Abschließend stellte die Kulturreferentin in der BdV-Landesgeschäftsstelle, Agnes Maria Brügging-Lazar, die Arbeit des BdV-Kulturreferates vor, die europäisch und generationenübergreifend ausgerichtet sei. Beispielhaft verwies sie auf die zahlreichen verständigungspolitischen Seminarreisen des Deutsch-Europäischen Bildungswerks in Hessen e.V. in die Staaten Ostmittel-, Ost- und Südosteuropas. In ihrer Präsentation wurde die große Bandbreite der Kulturarbeit des BdV sichtbar, die von Ausstellungen, Vorträgen und Tagungen bis hin zur Inventarisierung von Heimatsammlungen reicht. Zu den umfangreichen digitalen Projekten gehöre insbesondere der YouTube-Kanal des BdV-Landesverbandes CULTURE TO GO. Herausragend sei das vom Hessischen Ministerium des Innern und für Sport geförderte neue Digitalportal „Flucht und Vertreibung im europäischen Kontext“, das als Projekt des BdV-Landesverbandes Hessen in Zusammenarbeit mit der Digitale Lernwelten GmbH entstanden sei und anlässlich des Festaktes zum 70-jährigen Gründungsjubiläum des BdV-Landesverbandes am 21. Juni 2023 freigeschaltet worden wurde.
„Die Zwolinge“, bestehend aus Stefanie Januschko (stellv. Vorsitzende der Dachorganisation Sudetendeutsche Jugend) und Elisabeth Januschko (Bundesjugendleiterin der Böhmerwaldjugend), begleiteten die Tagung musikalisch.
Familienforschung und der Dialog der Generationen
In ihren Einführungsvorträgen zu den Themen Genealogie und intergenerationelle Zusammenarbeit gaben die Historikerin Cosima Jungk und die Medienwissenschaftlerin Adeline Gütschow wichtige Impulse für die praktische Arbeit in den Workshops am Samstagnachmittag und Sonntagvormittag. Im Workshop „Familienforschung – Entdecke Deine Geschichte“, der von Cosima Jungk geleitet wurde, begaben sich die Teilnehmenden gemeinsam auf die Suche nach der eigenen Familiengeschichte und erhielten Tipps und Hilfestellungen für den Einstieg in die Ahnenforschung und zur Archivarbeit und den richtigen Umgang mit Quellen. Typische Fragen wurden dabei geklärt: Wie fängt man an und wie geht man vor? Wie bewahrt man Familienunterlagen auf? Welche Quellen kann man für die Forschung nutzen und wo kann ich sie finden? Wo findet man Hilfe, wenn man nicht weiterkommt?
Cosima Jungk arbeitet selbst als Historikerin in einem Brief-Editionsprojekt an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Gleichzeitig erforscht sie als Genealogin Familiengeschichten und gibt ihre Kenntnisse als „Fräulein Genealogie“ in Kursen und Vorträgen weiter.
Im Workshop „Dialog der Generationen – Zukunft geht uns alle an“ beschäftigten sich die Teilnehmenden mit der Frage, wie ein Generationenwechsel in den Vertriebenenverbänden gestaltet werden kann. Dabei wurden sie für generationsbedingte Unterschiede sensibilisiert. Ausgehend von einer gemeinsamen Wissensgrundlage zum Hintergrund der Generationenforschung wurden typische Meinungsverschiedenheiten, Vorurteile und Missverständnisse zwischen den Generationen betrachtet, um mittels praktischer Hilfsmittel und Lösungsansätze eine gemeinsame Basis der Kommunikation und Zusammenarbeit zu schaffen.
Geleitet wurde der Workshop von der Medienwissenschaftlerin und Organisationsentwicklerin Adeline Gütschow und dem Körpersprachen- und Kommunikationscoach Richard Weber geleitet. Adeline Gütschow ist Lehrbeauftragte für das Masterseminar „Change Management“ an der Hochschule Mainz und arbeitet als interkulturelle Mediatorin, systemisch-integraler Life & Business Coach. Der ausgebildete Balletttänzer und Schauspieler Richard Weber ist Dozent für Schauspiel und ehemaliger Leiter der Schauspielschule Mainz.
„Temeswarer Tage“ – Lesung mit Thomas Perle
Kultureller Höhepunkt der Tagung war die gut besuchte Lesung „Temeswarer Tage“ und das Gespräch mit dem rumäniendeutschen Autor und Dramatiker Thomas Perle am Samstagabend im Theater im Pariser Hof. Thomas Perle, 1987 im sozialistischen Rumänien als Sohn einer Rumäniendeutschen und eines ungarischen Vaters geboren, wuchs nach der Emigration der Familie dreisprachig in Nürnberg auf. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien mit Diplomabschluss und ist als Autor und Dramatiker international tätig. Seit Mai 2023 ist er Stadtschreiber der Europäischen Kulturhauptstadt 2023 Temeswar/Timișoara. Das Stadtschreiber-Stipendium des Deutschen Kulturforums östliches Europa, das von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) dotiert wird, dient dazu, das gemeinsame kulturelle Erbe der Deutschen und ihrer Nachbarn in jenen Regionen Mittel- und Osteuropas, in denen auch Deutsche gelebt haben oder heute noch leben, in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Es soll darüber hinaus das gegenseitige Verständnis und den interkulturellen Dialog fördern.
Thomas Perle begeisterte das Publikum mit einer Lesung aus seinem 2018 erschienenen Buch „wir gingen weil alle gingen“, seinem Theaterstück „karpatenflecken“, das 2021 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt wurde, sowie aus seinem literarischen Internettagebuch als Stadtschreiber von Temeswar/Timișoara, in dem er während seines fünfmonatigen Aufenthalts über Begegnungen und Begebenheiten aus der Stadt berichtet. Über diesen Blog können Interessierte unter www.stadtschreiber-temeswar.de mit dem Autor in Kontakt treten.
Im anschließenden Gespräch mit der BdV-Kulturreferentin Agnes Maria Brügging-Lazar äußerte Thomas Perle seine tiefe Abneigung gegen jede Form des Nationalismus. Mit seinen Stücken, in denen es um Fragen nach Identität geht, bei der die Nationalität nur ein Aspekt sei, erzählt er europäische Geschichte anhand von Familiengeschichten. Uraufführungen neuer Werke aus der Feder von Thomas Perle stehen bereits ab August bevor.
Moderiert wurde der Abend von der BdV-Landeskulturbeauftragten Rose-Lore Scholz, die dem Autor und den Mitarbeiterinnen der BdV-Landesgeschäftsstelle für die Organisation der Kulturtagung herzlich dankte. Musikalisch umrahmt wurde der Abend durch „Die Zwollinge“.