„Sie haben Hessen und Deutschland mitgeprägt und zu dem gemacht, was es heute ist. Ihre wichtige Aufbauarbeit nach dem Krieg war Grundlage dafür, dass sich das Land positiv entwickeln konnte. Ich bin allen Vertriebenenverbänden und auch den Landsmannschaften, zutiefst dankbar, dass Sie das, was Sie im Bereich Erinnerungs- und Kulturpflege leisten, so enorm und so engagiert und so nachhaltig leisten. Neben der Pflege der Kultur, der eigenen und der alten Heimat wirken Sie natürlich eben auch dann als Brückenbauer, und deswegen passt dieses Wort so gut in jene Staaten, in denen Ihre Herkunftsgebiete liegen. Und deswegen sind Sie alle so etwas wie die Botschafter einer europäischen Einigung.
Deswegen ist das Wort der Brückenbauer so wichtig, deswegen ist das Leitwort so wichtig, und dass die Vertriebenen bereit waren, neue Heimaten zu finden, sich auf neue, ihnen unbekannte Orte einzulassen, ja, und auch ihre Existenz in der Gesellschaft, auch in der Wirtschaft neu aufzubauen, auch – und das muss man schon hinzufügen, der Ehrlichkeit halber – wenn die Eingliederung nicht einfach gewesen ist, und wenn die Willkommenskultur möglicherweise auch damals ausbaufähig gewesen wäre. Weil natürlich Menschen, die damals hier schon lebten, in dieser furchtbar prekären Situation Sorge hatten, dass sie das, was sie haben, eben noch mehr aufteilen müssen. Aber am Ende, muss man wirklich sagen, ist es eine Erfolgsstory der deutschen Nachkriegsgeschichte gewesen". Diese Worte wählte der hessische Ministerpräsident Boris Rhein bei seiner Festrede in der Rotunde des Biebricher Schlosses vor zahlreichen Ehrengästen und Teilnehmern aus nah und fern.
In seiner Rede forderte der Ministerpräsident auf, sich stets der eigenen Geschichte bewusst zu sein. Die Zeitzeugenberichte der Vertriebenen in Schulen oder generationenübergreifenden Projekten seien für viele Jugendliche prägend. Dass Zeitzeugen noch mit über 90 Jahren in die Schulklassen gingen, sei „beeindruckend, wertvoll, berührend und lebendiger Geschichtsunterricht“. „Diese Erzählungen sollen wachrütteln, aufmerksam machen und können dazu beitragen, künftig das zu verhindern, was vor mehr als 80 Jahren passiert ist. Eine so eindringliche Schilderung kann durch kein Geschichtsbuch ersetzt werden.
Stadtverordnetenvorsteher der Landeshauptstadt Wiesbaden, Dr. Gerhard Obermayr, forderte in seinen Grußworten, den Demokratiegedanken zu erneuern, zu verteidigen und damit stets wachzuhalten. Das Recht auf Heimat sei ein Menschenrecht und fest in den Herzen der Vertriebenen verankert.
Siegbert Ortmann, Vorsitzender des hessischen Landesverbandes des Bundes der Vertriebenen (BdV) konnte an diesem Tag bereits zu Beginn neben dem neugewählten hessischen Ministerpräsidenten Boris Rhein zahlreiche Ehrengäste aus Politik, Wirtschaft, Kunst, Kultur, Sozialverbänden und Vertriebenenorganisationen aus ganz Hessen begrüßen: u.a. den Europaabgeordneten Michael Gahler (CDU), den hessischen Minister der Justiz Prof. Dr. Roman Poseck (CDU), den Staatssekretär Stefan Sauer (CDU) vom hessischen Ministerium des Innern und für Sport, den Vizepräsidenten des hessischen Landtags Frank Lortz (CDU), den Vorsitzenden des Unterausschusses für Heimatvertriebene, Aussiedler, Flüchtlinge und Wiedergutmachung Andreas Hofmeister(CDU), die Landtagsabgeordneten Marcus Bocklet (Bündnis 90/Die Grünen), Nadine Gersberg (SPD), Yanki Pürsün (FDP), Saadet Sönmez (DIE LINKE), Dimitri Schulz (AfD) sowie von der Landeshauptstadt Wiesbaden den Stadtverordnetenvorsteher Dr. Gerhard Obermayr (CDU) und die Vorsitzende der CDU-Stadtverordnetenfraktion Daniela Georgi.
In seinen Begrüßungsworten wies Ortmann auf die Einführung eines Gedenktages für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation vor neun Jahren hin, mit dem das Land Hessen alljährlich an das Miteinander in Europa erinnern wolle. Darüber hinaus solle im Geist der Charta der deutschen Heimatvertriebenen Vertreibung und Deportation als Mittel der Politik geächtet werden. Dieser Tag sei damit ein Tag der Erinnerung und Mahnung zur Wahrung der Menschenrechte mit ganz aktuellem Bezug auch zu Geschehnissen im Ukraine-Krieg geworden. Nach Berichten würden die russischen Machthaber um Putin millionenfach ukrainische Bürger gegen ihren Willen aus ihrer angestammten Heimat in unbekannte Regionen Russlands verschleppen und begingen damit weitere schwerwiegende Kriegsverbrechen im Rahmen der grausamen kriegerischen Auseinandersetzung.
Auf das Leitwort des diesjährigen Tages der Heimat "Heimatvertriebene und Spätaussiedler: Brückbauer in Europa" eingehend, verstehe sich der hessische BdV-Landesverband seit der politischen Wende 1989/90 als anerkannter Brückenbauer bei der Verständigung mit den Völkern Ost- und Mitteleuropas und führe dazu regelmäßig Begegnungen in Form von Seminaren durch. Damit solle der Blick auf die gemeinsame Vergangenheit aufgearbeitet, aber auch Vorstellungen für ein gedeihliches Zusammenleben in der Zukunft entwickelt werden. Organisiert werde das Ganze vom Deutsch-Europäischen Bildungswerk in Hessen e.V., einer eigenständigen, aber unter dem Dach des BdV-Hessen stehenden vereinsmäßigen Einrichtung, die inzwischen schon 32 Jahre existiere und während dieser Zeit bereits über 100 verständigungspolitische Seminare und Studienreisen mit staatlicher Förderung nach § 96 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) organisiert habe.
Dr. Jürgen Porr, Vorsitzender des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen (Rumanien), wählte in seiner Festansprache das Thema der Minderheiten in Europa und schilderte dabei beispielhaft und eindruckvoll das Schicksal der deutschen Minderheiten im damaligen Rumänien und Jugoslawien während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Menschen aus den damaligen deutschen Siedlungsgebieten in Siebenbürgen und dem Banat hätten im Rahmen einer vorgegebenen Kollektivschuld jahrelang unsägliches Leid bei Deportationen in die damalige Sowjetunion erlitten.
"Für die Rumäniendeutschen, die nie vertrieben wurden, begann ihr Trauma erst im Januar 1945 mit der Deportation in die sowjetischen Arbeitslager. Die gesamte arbeitsfähige deutsche Bevölkerung, d.h. die Männer zwischen 18 bis 45 und die Frauen zwischen 17 bis 35 Jahren wurden eingesammelt, in Viehwaggons gepfercht und die meisten in die Kohlenbergwerke in den Donbass geschickt. Es war eine Kollektivschuld, nur wegen ihres deutschen Namens, so dass sogar Antifaschisten unter ihnen waren. Die Bedingungen dort waren äußerst hart: Sibirischer Winter, karges Essen, Ungeziefer und schwerste Arbeit. Viele starben vor Hunger, Kälte oder bei Arbeitsunfällen. Andere wurden schwer krank und wurden nach Hause geschickt. Das waren die wenigen Glücklichen. Die meisten mussten bis 5 Jahre ausharren und kamen dann 1949/1950 zurück – physisch und psychisch für ihr Leben gezeichnet. Eine zweite Deportation erfolgte dann Anfang der fünfziger Jahre im Banat".
Das gemeinsame Haus Europa werde derzeit von verschiedenen Krisen geschüttelt. In den meisten europäischen Ländern würden nationalistische und antieuropäische Bewegungen schwelen. "Deshalb muss sich dieses gemeinsame Haus auf seine Grundwerte besinnen, die Ideale von Coudenhove-Kalergi, Schumann und Adenauer verwirklichen, eine gemeinsame Wirtschafts- und Außenpolitik entwickeln, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können. Dieses gemeinsame Haus muss unsere gemeinsame Heimat sein, für die wir uns alle einsetzen müssen, in Ost und West, gerade jetzt in diesen Krisenzeiten, wenn wir eine gemeinsame Zukunft haben wollen!", so Jürgen Porr in seiner Festansprache.
Die musikalische Umrahmung der Veranstaltung im Biebricher Schloss hatte das Streichquartett Junge Musik Hessen und die Blaskapelle Weindorf Johannisberg übernommen.
Fotos: BdV-Hessen
© bdv-hessen-presse